Gewalt ist nie eine Sache des Glaubens: warum friedliche Religionen gewalttätig werden
In einer Religion ist kein Platz für Gewalt. Sollte man denken. Kriege und Anschläge im Namen des Glaubens belegen das Gegenteil. Aber Gewalt lässt sich nicht mit Glaubensgründen rechtfertigen.
Noch immer greifen Menschen im Namen ihrer Religion oder ihrer Weltanschauung zur Gewalt. Das trifft selbst auf zwei Religionen zu, deren Gründer entschieden friedlich waren: den Buddhismus und das Christentum. Das Prinzip der Gewaltlosigkeit gehört zwar auch zum Hinduismus. Und trotz einigen Suren des Korans, in denen zum heiligen Krieg aufgerufen wird, sind die wesentlichen Elemente des Islams, der Glaube an einen streng unitarischen Gott, die täglichen Gebete, das Fasten im Ramadan und das Verbot von Schweinefleisch und Alkohol, ihrer Natur nach friedlich. Die Frage, wie und warum eine ihrem Wesen nach gewaltlose Religion sich in Gewalt verkehren kann, lässt sich aber besser am Beispiel des Buddhismus und des Christentums darlegen.
Der Begründer der älteren Religion, Siddhartha, entstammt dem Hinduismus (übrigens der Kriegerkaste), verwirft jedoch dessen Gedanken der Unsterblichkeit zugunsten der Ansicht, das Leben sei vergänglich und leidvoll. Aus diesem Grund müsse sich der Mensch von allen Leidenschaften befreien und in jenem Nirwana seine Erlösung suchen, das «dem Verlöschen einer Lampe gleicht». Offensichtlich hat ein diesem Ziel, der Vernichtung von allem Daseinsdurst, gewidmetes Leben für Gewalt keinen Platz. Im Gegenteil, Gewalt gehört zu den Leidenschaften, von denen sich gründlich freizumachen hat, wer ins Nirwana eingehen will.
In Hinsicht auf die vorbildliche Lebensweise ähneln sich Buddhisten und Christen in hohem Mass. Die buddhistischen Verbote, zu töten, zu lügen und zu stehlen, erinnern an die entsprechenden Verbindlichkeiten der zehn Gebote. Und im Gebot der Güte klingt die Nächstenliebe an, zu der das Christentum auffordert. Bei diesem wiederum sind Aussagen zur Gewaltfreiheit bekannt, vor allem: «Halte auch die andere Wange hin» und «Stecke dein Schwert in die Scheide». Der theologische Rahmen beider Religionen ist aber grundverschieden. Nach christlicher Lehre gibt es ein Leben nach dem Tod, was der buddhistische Gedanke des Nirwana ausschliesst.
Was das Zusammenleben fordert
Für die Aufgabe, trotz diesem «theologischen» Widerspruch den Ort für den gemeinsamen Grundsatz der Gewaltlosigkeit zu finden, drängt sich John Rawls’ Gedanke des «übergreifenden Konsenses» auf. Rawls bezieht ihn zwar auf öffentliche Debatten in einer liberalen Demokratie. Obwohl in ihr eine Vielfalt sich ausschliessender religiöser, philosophischer und moralischer Lehren herrsche, müsse sie, selbstverständlich friedlich, zu einer gemeinsamen Politik finden. Zu diesem Zweck müssten die konkurrierenden Lehren sich von ihren Konkurrenzanteilen freimachen, damit am Ende nur die miteinander verträglichen Ansichten übrig blieben – eben der überlappende Konsens.
Dieser Gedanke lässt sich unschwer auf ein Zusammenleben der Religionen, auch der Weltanschauungen übertragen: Auch hier herrscht eine Konkurrenz theologischer und anderer «theoretischer» Ansichten, während es auf der praktischen Seite als wesentliche Gemeinsamkeit den Grundsatz der Friedfertigkeit geben kann, allerdings nur kann. Denn sowohl Religionen als auch Weltanschauungen, zu deren Kern die strenge Gewaltlosigkeit nicht gehört, sind hinlänglich bekannt. Für den Islam trifft es insofern zu, als seine Heilige Schrift, der Koran, die Aufforderung zum Heiligen Krieg enthält. Und unter der Gewaltbereitschaft des realen Sozialismus und Marxismus leiden die betroffenen Völker bis heute.
Der Gedanke des übergreifenden Konsenses fordert nun die Religionen und Weltanschauungen auf, die Konkurrenzanteile auszufiltern. Sie müssen sie zwar nicht religions- beziehungsweise weltanschauungsintern und damit sich selbst aufgeben. Notwendig ist dies lediglich im Zusammenleben und für das Zusammenleben mit anderen Religionen und Weltanschauungen. Ein Beispiel: Einem Hindu muss es erlaubt sein, die Kuh für heilig zu halten. Er darf diese Ansicht aber keinem Nichthindu aufzwingen. Er darf es auch nicht, dieser Gedanke sei erlaubt, von einem nicht orthodoxen, sondern «liberalen Hindu» verlangen.
Die einzig wahre Lehre
Sobald Religionen und Weltanschauungen von ihren konkurrierenden Grundansichten absehen, sobald sie die Frage nach Polytheismus oder Monotheismus und innerhalb des Monotheismus die nach einem unitarischen oder trinitarischen Gott beiseiteschieben, dazu die Frage nach der Entstehung der Welt – etwa durch göttliche Schöpfung oder ohne sie – und die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt oder aber nicht, schliesslich die Frage, ob der Mensch rundum oder nur begrenzt frei ist, weil es auf göttliche Gnade ankommt: Sobald Religionen und Weltanschauungen diese und weitere Streitfragen ausklammern, öffnen sie sich für ein friedliches Zusammenleben höchst unterschiedlicher Auffassungen von «Gott und der Welt».
Noch ist freilich die Frage offen, warum selbst die von ihren Gründern her friedlichen Religionen gewalttätig werden können. Die erste Antwort ist nur dem Anschein nach trivial. Sie hängt mit der philosophischen Methode der bestimmten Negation zusammen und sagt: Wenn eine Religion ihrem Wesen nach friedlich ist, dann widerspricht der gewalttätige Anhänger dem Wesen seiner eigenen Religion. Soll diesem Widerspruch weder ein blosser Zufall noch eine banale Verblendung zugrunde liegen, so muss es eine der Religion zwar nicht innewohnende, aber ihr doch naheliegende Verbindung zur Gewalt geben.
Religionsstifter pflegen Anhänger, Jünger, zu finden, häufig versammeln sie diese bewusst um sich. Wird nun die Jüngerschar, was sich auf Dauer kaum vermeiden lässt, organisiert, so entstehen soziale Einheiten, Religionsgemeinschaften, die sich gegen andere Einheiten absetzen. Nun gehört zu einer Religion, auch einer Weltanschauung in der Regel die Auffassung, die allein wahre Lehre zu vertreten und den allein richtigen Weg zu gehen. Infolgedessen halten die Anhänger sich gern, teils ausdrücklich, teils implizit, für besser als die anderen.
Lehren heisst nicht töten
Auch ein derartiges Überlegenheitsgefühl erklärt die Gewaltbereitschaft aber noch nicht. Das schlagende Gegenbeispiel ist bekannt: Weil sich die Griechen für kulturell überlegen hielten, sahen sie auf die Nichtgriechen, die Barbaren, mit Verachtung herab. Das heisst aber noch lange nicht, dass sie gegen sie gewalttätig wurden. Selbst theologische Streitigkeiten müssen nicht mit Gewalt ausgetragen werden. Seit den Religionsdisputen der frühen Kirchenväter werden zahllose innerchristliche Debatten rein intellektuell geführt. Ähnliches ist aus dem Judentum und aus dem Islam bekannt.
Soll trotzdem die ihrer Natur nach sanfte Gewalt geistiger und geistlicher Auseinandersetzungen sich in die harte Gewalt von Übergriffen gegen Leib und Leben der Andersgläubigen und gegen deren Kirchen, Tempel und Synagogen verkehren können, so müssen Interessen derjenigen Sphäre ins Spiel kommen, für die Machtfragen wesentlich sind: die der Politik. Glücklicherweise sind aber deren Machtkämpfe nicht notwendig gewaltsam.
Wer die wahren Grundlagen der Gewaltbereitschaft erkunden will, findet sie deshalb kaum im Wesen einer Religion. Selbst der gern als Ursache für die christliche Gewaltbereitschaft behauptete Missionsauftrag ist nicht als solcher für die gewaltsamen Auswüchse missionarischen Verhaltens verantwortlich. Im Gebot: «Gehet hin in alle Welt und lehrt alle Völker» ist nämlich von «lehren», also einer friedlichen Aufgabe, dem Unterrichten, die Rede.
Ohnehin kommt der zu lehrende Glaube, etwa der an «Gott, den allmächtigen Vater, und an seinen eingeborenen Sohn» seinem Wesen nach, als Glaube, nicht durch Zwangsbekehrungen zustande. Vielmehr bedarf er der Freiwilligkeit. Den Grund für den Umschlag einer an sich friedlichen Religion in Gewaltbereitschaft suche man daher andernorts, in Eigenheiten der sozialen und politischen Ordnung, in die die jeweilige Religion sich einbettet, und in den davon geprägten Einstellungen, Mentalitäten der Menschen.
Otfried Höffe ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Tübingen und leitet dort die Forschungsstelle für politische Philosophie.
Author: Janice Bailey
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